Ein Großer der deutsch-französischen Freundschaft ist von uns gegangen. Nur wenige Tage nach Vollendung seines 99. Lebensjahres ist Professor Alfred Grosser am 7. Februar in Paris gestorben. Das ganze Leben dieses Hochschullehrers, Buchautors, Leitartiklers war dem gegenseitigen Verständnis zwischen Franzosen und Deutschen gewidmet. Die VDFG verdankt ihm viele Ideen und Anstöße in ihrem Engagement für die Freundschaft zwischen Menschen in unserern beiden Ländern, für die Kooperation der Zivilgesellschaften. Sie spricht seiner Familie ihr herzliches Beileid aus.
Alfred Grosser war die Inkarnation des Deutsch-Französischen. Als Deutscher in Frankfurt/Main in eine jüdische Familie geboren, floh er noch im Dezember 1933 vor dem Nazi-Regime nach Paris, wo sein Vater, ein in Frankfurt renommierter Kinderarzt, schon kurze Zeit später starb – ebenfalls am 7. Februar, auf den Tag 90 Jahre zuvor, 1934, wie sein Sohn Pierre Grosser erklärt. 1937 nahmen er, seine Mutter und seine Schwester Margarete die französische Staatsangehörigkeit an. Zehn Jahre später, 1947, unternahm er seine erste Reise zurück nach Deutschland. „Alles hat mit dieser Reise begonnen,“ schrieb er in seinen Memoiren, „ein halbes Jahrhundert von Bemühungen, einen, wenn auch kleinen, doppelten Einfluss auf einen doppelten Streit auszuüben: In Frankreich – Kenntnisse von und Verständnis für die Realitäten in Deutschland jenseits unumstößlicher Ignoranz zu vermitteln, in Deutschland – eine angemessene Vision von Frankreich zu verbreitern und zugleich dazu beizutragen, die neue deutsche Demokratie zu festigen.“
Dieser doppelten Mission hat er sich sein ganzes Leben lang gewidmet und verpflichtet gefühlt und dies nicht nur bei seinen vielfältigen Kontakten mit den Mächtigen, sondern vor allem bei den jungen Menschen – an der Uni in Seminaren und Vorträgen oder im Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW), in dessen Verwaltungsrat er von 1964 bis 1971 saß. Dort setzte er sich schon damals energisch dafür ein, dass die „Sprache des anderen“ unterrichtet wird – ein Anliegen, das auch heute wieder –oder immer noch?– ganz oben auf der Tagesordnung steht.
Über 30 Bücher hat der Professor an der „Sciences Po“ in Paris geschrieben, wo er von 1966 bis 1980 lehrte. Markenzeichen dieses exzellenten Kenners beider Länder aber war wohl, neben seiner unerschöpflichen Expertise, sein Humor, oft kombiniert mit einem verschmitzten Lächeln. So wird kolportiert, dass der Soziologe Raymond Aron, der im Prüfungsausschuss über Grossers Promotion saß, die dieser nicht mit einer Doktorarbeit, sondern mit der Vielzahl seiner Publikationen erwarb, ihm vorwarf, in seinen Büchern immer wieder dasselbe zu schreiben. „Ich antwortete ihm“, schrieb Grosser in seinem Buch „Mein Deutschland“, „dass dieser Vorwurf grossen Teils gerechtfertigt sei, denn –das sage ich ohne falsche Bescheidenheit– in meinem ersten Buch habe ich bereits die Schlüssel zur Erklärung des Nachkriegsdeutschlands geliefert, die sich auch später immer wieder als nützlich erwiesen.“ Das verschmitzte Lächeln kann man sich dazu denken.
Alfred Grosser, der atheistische Jude, mit einer Katholikin verheiratet, sprach nicht gern von der „deutsch-französischen Versöhnung“, denn es ging ihm immer um den Willen, den anderen zu verstehen. Dazu gehörte seine Überzeugung, dass es keine Kollektivschuld gebe, „wie monströs die Verbrechen und die Zahl der Verbrecher auch gewesen sein mögen.“ Und dazu gehörte seine Fähigkeit, „die Leiden des anderen“ anzuerkennen. Die deutsch-französischen Beziehungen könnten „zwei unterschiedliche und dennoch wahre Aspekte ein und derselben Wirklichkeit“ darstellen. Damit hinterläßt Alfred Grosser den Freunden Frankreichs in Deutschland und den Freunden Deutschlands in Frankreich einen weisen Leitgedanken, der auch in schwierigen Zeiten gelten kann. DP
Foto: Prof. Alfred Grosser 2017 zu Gast bei der Auslandsgesellschaft Dortmund (Foto: J. Hake)