Stellungnahme der VDFG zu Äußerungen des MP Kretschmann in Ludwigsburg (3.7.2023)
Die Äußerungen des Ministerpräsidenten des Landes Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, auf der Festveranstaltung des Deutsch-Französischen Instituts (dfi) in Ludwigsburg am 3.7.2023 zur Bedeutung des Erwerbs der französischen Sprache haben zu teilweise heftigen Reaktionen geführt, u.a. auch bei unseren Mitgliedsgesellschaften. Die auf dem Festakt anwesenden Vertreter*innen sowohl der VDFG für Europa e.V. als auch der VdF e.V. (Vereinigung der Französischlehrer*innen) waren darüber ebenso bestürzt wie betroffen. Zwischenzeitlich hat sich die VdF in einem persönlichen Schreiben ihres Vorsitzenden, Herrn Grégoire Fischer, an Herrn MP Kretschmann gewandt, um offenkundige Fehldarstellungen richtig zu stellen und dem negativen Eindruck, der von der Darstellung in Bezug auf die Sprachenwahl Französisch ausgeht, entgegen zu wirken. Die VDFG für Europa e.V. unterstützt ausdrücklich diese Ausführungen der VdF, die wir auszugsweise hier gern wiedergeben:
„Insbesondere die schockierten Rückmeldungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigen auf, welchen negativen Einfluss Ihre Aussagen auf das Fach Französisch haben können:
· Die Schüler*innen könnten nach vielen Jahren des Französischerwerbs in der Schule „noch nicht einmal ein Eis in Frankreich kaufen“: Zunächst einmal ist mir unklar, auf welcher Grundlage Sie diese faktisch unzutreffende und fälschlich verallgemeinernde Aussage treffen, die nach einer veralteten Argumentation aus der Mitte des 20. Jahrhunderts anmutet. Fachdidaktisch hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel im Sinne einer kommunikativ ausgerichteten Fremdsprachendidaktik getan und die sprachlichen Kompetenzen der Schüler*innen gehen weit über das „Eis kaufen“ hinaus. Ich empfehle Ihnen die Auseinandersetzung mit den vielen Sprachdiplomen, z.B. DELF/DALF, die sehr erfolgreich in Deutschland erreicht werden, mit den großartigen (außer-)schulischen Teilnahmen an inhaltlichen Debatten, Wettbewerben und bi-/multinationalem Engagement.
· Darüber hinaus ist Ihre Aussage wenig wertschätzend gegenüber allen Französischlehrkräften, die sich häufig über das normale Maß an zu erwartetem Einsatz für den Erwerb der französischen Sprache – trotz zum Teil schwieriger Bedingungen – einsetzen und viel Engagement im schulischen Kontext zeigen.
· Ihr Vergleich zwischen Feuerwehrleuten, die kein Französisch können, und dem Aufbau einer europäischen Hochschule in Baden-Württemberg legt leider nahe, dass Französisch die Sprache einer gewissen akademischen Elite sei. Es ist sicherlich richtig, dass das verpflichtende Belegen einer 2. Fremdsprache nur in gymnasialen Bildungsgängen diese Denkweise unterstützt. Seit Jahren kämpfen allerdings unterschiedliche Fremdsprachenverbände für das Erlernen einer 2. Fremdsprache für alle Schüler*innen, unabhängig vom gewählten Bildungsgang. Bis heute findet diese Forderung kein Gehör bei den politischen Entscheidungsgremien der Länder und des Bundes – ihre Aussage fördert die Erweiterung des Fremdsprachenerwerbs auf alle Bildungsgänge nicht!
· Ihre Aussage zur Zukunftsvision der Sprachen in 10 Jahren, wenn alle „mit einem Knopf im Ohr“ sich die unterschiedlichsten Zielsprachen übersetzen lassen können, verdeutlicht, dass Sie die Auffassung „English only“ vertreten, die einen krassen Widerspruch zur Politik der EU darstellt, die 1996 in dem viel zitierten Weißbuch (https://europa.eu/documents/comm/
white_papers/pdf/com95_590_de.pdf) die die danach vielerorts wiederholte Forderung aufstellte, dass alle (!) europäischen Bürger*innen neben ihrer Muttersprache zwei europäische Fremdsprachen erlernen. Der EU-Vergleich aus dem Jahr 2017 zeigt, dass die Lernenden der Sekundarstufe I in Deutschland mit mindestens zwei Fremdsprachen bei gut einem Drittel liegen, während der EU-Durchschnitt bei weit über 50 Prozent liegt – europäisch zu denken, bedeutet demnach auch Sprachen zu lernen.
Darüber hinaus bedeutet das Erlernen weiterer Fremdsprachen weit mehr als nur das Verinnerlichen einer sprachlichen Systematik, nämlich die Entwicklung trans- und interkulturelle Kompetenzen sowie Medienkompetenz, der Ausbau von Empathie, Respekt und Toleranz – dies sind Kompetenzen und Werte, die das Fundament für ein friedliches Miteinander innerhalb Europas und der Welt sind. Französisch zu lernen, ermöglicht eine Vielzahl an weiteren Begegnungen, real, virtuell oder fiktiv, die der Persönlichkeitsentwicklung der Schüler*innen wesentlich beitragen und somit auch nachhaltig die Demokratieerziehung fördern.
Nicht nur aus wissenschaftlicher, sondern auch aus politischer, zivilgesellschaftlicher und europäischer Perspektive ist das Erlernen einer zweiten europäischen Fremdsprache notwendig, unabhängig vom Bildungsstand und Bildungsgang. Auf der Grundlage der im Rahmen des 60jährigen Jubiläums des Élysée-Vertrages entstandenen „Strategien zur Förderung der Partnersprache“, welche am 24.11.2022 von Herrn Pap Ndiaye, Minister für nationale Bildung und Jugend der Französischen Republik, und Herrn Hendrik Wüst, Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des Vertrages über deutsch-französische Zusammenarbeit, unterzeichnet wurde, wirken Ihre Aussagen wie ein Affront gegen die dort formulierten Ziele:
„Die einzigartigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich zeigen, dass Sprache und Kommunikation zwischen […] Bürgerinnen und Bürgern unverzichtbar für Frieden und Versöhnung sind – zwischen [Deutschland und Frankreich], aber auch für ein geeintes Europa.“ (Strategien zur Förderung der Partnersprache 2022, S. 3). Der Schlüssel eines in diesem Sinne nachhaltigen Erfolges für Frieden und Versöhnung liegt insbesondere beim Erlernen der Partnersprache unter jungen Menschen. In den vergangenen Jahren ist ein steter Abwärtstrend beim Erlernen der französischen Sprache zu verzeichnen, der uns mahnt, „besondere Anstrengungen zu unternehmen, um die Bedeutung [der] Partnersprache wieder zu steigern.“ (Strategien zur Förderung der Partnersprache 2022, S. 3)“