Monatelang wurde in Frankreich über eine Rentenreform gestritten, mit der Präsident Emmanual Macron die weitere Finanzierbarkeit der Altersversorgung langfristig sicherstellen und zugleich das System vereinfachen wollte. Viele Sondersysteme („régimes spéciaux“) für besondere Berufsgruppen hatten zu einem wahren Wirrwarr an Ansprüchen geführt, die nicht nur für deutsche Beobachter etwa, sondern auch für Franzosen nur noch schwer zu durchschauen und zu verstehen waren. „Nationale Aktionstage“, von den Gewerkschaften organisiert, hatten Millionen von Menschen zu Protesten gegen die Reform auf die Straße gebracht. Und auch gewaltbereite Gruppen haben die Gelegenheit ergriffen, Randale zu machen. Für Deutsche dagegen schienen die hitzigen Debatten über eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters in Frankreich von 62 auf 64 Jahre, wenn Rente ohne Abzüge bezogen werden kann, wie Szenen aus einer anderen Welt – und schwer zu verstehen.
Eine Podiumsdiskussion im Hybridformat am 16. Mai in der „Maison de l’Allemagne“, dem Heinrich-Heine-Haus in der Pariser Cité Universitaire, hat etwas Licht ins Dunkel gebracht. Experten aus Paris und Berlin haben unter der Moderation von David Capitant, einem Professor des Öffentlichen Rechts an der Universität Paris 1, die Frage aus unterschiedichen Blickwsinkeln beleuchtet: „Retraite: Une Comparaison France/Allemagne des systèmes de retraite“ heißt der Titel der Konferenz, die bald in der Mediathek des Heinrich-Heine-Hauses (http://www.maison-heinrich-heine.org) angesehen werden kann.
Das Gesetz wird zwar nach einem heftig umstrittenen parlamentarischen Prozeß am 1. September in Kraft treten, hat aber die Schwächen des Präsidenten und seiner Regierung in seiner zweiten Amgtszeit offenbart. Ohne eigene parlamentarische Mehrheit hat sich die Regierung von Elisabeth Borne auf viele Gespräche und politische Zugeständnisse einlassen müssen, die das ursprüngliche Projekt so verändert haben, daß am Ende niemand mehr zufrieden war. Umfragen zeigten zunehmende Ablehnung des Reformvorhabens im ganzen Land. Im Präsidentschaftswahlkampf im Frühjahr 2022 hatte Macron die Reform zwar zu einem wichtigen Thema gemacht. Aber schon in der Kampagne für die Parlamentswahlen im Sommer, an der sich Macron selbst kaum beteiligte, stand das Thema nicht mehr im Mittelpunkt.
Und so sehen sich der Präsident und seine politischen Freunde in der Nationalversammlung nun mit der Tatsache konfrontiert, daß selbt die eigenen Anhänger, die an den Inhalten der Reform selbst kaum etwas auszusetzen haben, von der „brutalen Methode“ der Regierung enttäuscht, ja darüber verbittert sind. Um den Artikel 49.3 der Verfassung anwenden zu können, der die Verabschiedung eines Gesetzes auch ohne Abstimmung im Parlament erlaubt, wenn statt dessen über ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung abgestimmt wird, mußte die tiefgreifende Rentenreform als Gesetzentwurf zu einem Nachtragshaushalt der Sozialversicherung eingebracht werden. Denn dieses Verfahren ist nur für die Finanzgesetzgebung frei anwendbar, sonst nur einmal pro Sitzungsperiode. Nachdem Elisabeth Borne dieses Verfahren mangels eigener Mehrheit bereits mehrmals zur Verabschiedung des Haushalts angewandt hatte, ist nun auch die Rentenreform mit dem Stigma versehen, am Parlament vorbei beschlossen worden zu sein. Dabei wurden auch ursprünglich vorgesehene Kompensationsmaßnahmen fallen gelassen, weil sie nicht in dieses Gesetzgebungsverfahren paßten. Immerhin hat das Verfassungsgericht (Conseil Constitutionnel) die Reform mit kleinen Änderungen in zwei Entscheidungen gebilligt.
Als Sieger gingen Macron und seine Regierung freilich nicht vom Platz. Die Premierministerin hat jetzt die Gewerkschaften eingeladen, gemeinsam nach Wegen zu einer Befriedung des Landes zu suchen. Dabei wird dann auch wieder über die Kompensationsmaßnahmen zu reden sein, die jetzt dem parlamentarischen par- force-Ritt zum Opfer fielen. DP