Was eigentlich ist „Europa“? Und für wen ist es was? Eine Sache des Kopfes oder des Herzens? Oder beides? Der 66. Jahreskongress von VDFG für Europa und FAFA pour l’Europe, der am 22./23. Oktober in Dortmund tagte, bot eine Plattform für solch grundsätzliche Fragen, denen sich die Deutsch-Französischen Gesellschaften auch in ihrer örtlichen Arbeit zu stellen haben; gerade in Zeiten eines Kriegs in Europa, von dem auch Deutschland und Frankreich betroffen sind.
Zur Eröffnung bot ein Podiumsgespräch mit vier Gästen, moderiert von zwei bestens vorbereiteten Journalistikstudentinnen, erste Impulse. Die Schriftsteller Olivier Guez und Michal Hvorecky, Franzose und Slowake, die das Buch „Tour d’Europe“ herausgebracht haben, warfen ein Licht auf die unterschiedliche Wahrnehmung von „Europa“. In dem Buch kommen Autoren aus allen 27 EU-Mitgliedstaaten zu Wort, indem sie jeweils einen Ort in ihrem Land beschreiben, der für sie „Europa“ bedeutet. Für Olivier Guez aus Straßburg sind es die Grenzerfahrungen am Rhein während der Pandemie, als sich die Menschen beiderseits trotz Schließung der Grenzen in Demonstrationen ihrer Zusammengehörigkeit versicherten. Er bemängelte den „Geburtsfehler der EU“, der darin bestehe, dass die kulturelle Integration vernachlässigt werde. Ein Zugehörigkeitsgefühl der Europäer zur EU müsse entwickelt werden, und dabei verfehle die Union ihre Aufgabe.
Auch bei Michal Hvoretzky aus Bratislava sind es Grenzerfahrungen, aber ganz anderer Art – nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs, als verlorene Welten wieder lebendig wurden. In Mitteleuropa, ein Begriff der in Frankreich eher politisches Unbehagen auslöst, finde sich die größtmögliche Vielfalt von Völkern und Sprachen auf kleinstem Raum, die nun wieder gelebt werden könne. Zugleich bestehe der Beitrag Mittel- und Osteuropas zur EU vor allem aber in seinen geschichtlichen Erfahrungen mit dem Holocaust und der russischen Besetzung. Mit Blick auf „Europa“ könne es in Mittel- und Osteuropa nicht nur um die Wirtschaft gehen. Auch für den Slowaken geht es um die „europäische Identität“, für die das undemokratische Ungarn ein großes Problem darstelle, wo es auch um religiöse Identität gehe und die Gefahr der organisierten „fake news“ eine große Gefahr darstelle.
Anne Gödde vom „Speakers Pool“ der EU-Kommission berichtete, dass gerade junge Menschen große Erwartungen an Europa haben. Dies erfahre sie bei ihren vielen Verantaltungen. Und für Felix Neumann von dem musikalschen Künstlerduo „Zweierpasch“ aus dem oberrheinischen Grenzgebiet geht es immer um die Vereinbarkeit von Solidarität und Identität, gerade über die Genze hinweg.
Florian Staudt, ebenfalls vom „Speaker-Pool“ der EU-Kommission, berichtete anschließend vom Stand der Entwicklung der „Konferenz zur Zukunft Europas“. Zu dieser EU-weiten zivilgesellschaftlichen Veranstaltung, die den EU-Institutionen am 9.5.2022 eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt hat, hatte auch die VDFG/FAFA ihren Beitrag geliefert. Das Europäische Parlament hat seine Schlussfolgerungen bereits an den Ausschuss für konstitutionelle Fragen zur weiteren Bearbeitung überwiesen. Der Rat hat sich im Juni damit befasst und beschlossen, sich zunächst auf die Maßnahmen zu konzentrieren, die ohne Vertragsänderungen möglich sind. Die Kommission hat am 14.9. ihre Vorschläge in der Rede zur Lage der Union dargelegt. Nun soll es am 2.12. eine „Feedback“-Veranstaltung geben, bei der über das weitere Vorgehen befunden wird.
Gefüttert mit diesen reichhaltigen Informationen und Reflexionen diskutierten vier Arbeitsgruppen darüber, was unsere Gesellschaften zur Füllung dieses Begriffs „Europa“ konkret beitragen können. Im Atelier „Zivilgesellschaft, Demokratie und Zugehörigkeitsgefühl stärken“ beschäftigten sich die Teilnehmer mit Angeboten an politischer Bildung, die DFGen leisten oder fördern könnten, mit dem Ausbau von Sprachenkenntnissen, die für Mobilitäts- und Städteartnerschaftsprogramme wichtig sind, sowie mit dem Erleben von Diversität und Vielfalt. Im Atelier „Intra-europäische Mobilität und Kooperation in Wirtschaft, etc.“ drehte sich die Diskussion vor allem um digitale Möglichkeiten in Ausbildung und Forschung sowie um Mobilität zur Lösung des Fachkräftemangels. Außerdem erörteten die Teilnehmer neue Formen des Praktikanten- und Fachkräfteaustausches.
Im Atelier „Völkerverständigung und Frieden 2022“ ging es darum, wie DFGen angesichts des Krieges gegen die Ukraine agieren können, der sich ja auch auf Deutschland und Frankreich auswirkt. Auch hier spielten unterschiedliche Sichten auf „Europa“ eine Rolle. Aber Einigkeit herrschte in der Auffassung, dass DFGen Hoffnung auf Versöhnung vorleben und aufrechterhalten, Hilfe und Solidarität zeigen und das politische Prinzip der Völkerverständigung hochhalten können, ohne parteipolitische Position zu beziehen. Wir können starke Zeichen setzen und dürfen nicht schweigen. Im Atelier „Europäisches Gefühl in jungen Herzen“ wurden exemplarische Beispiele aus der Praxis der Jugendarbeit einiger DFGen diskutiert.
Alles in allem boten die Diskussionen bei diesem Jahreskongress vielfältige Gelegenheiten zum Nachdenken über eine alte Frage: Wie hältst Du’s mit Europa? In dieser Zeit der Krisen und Kriege ist sie so aktuell wie lange nicht.
Der 67. Jahreskongreß wird wieder in Frankreich stattfinden, und zwar vom 20.-22.10.2023. Der Vizepräsident der FAFA, Raymond Bécouse stellte am Sonntag den Ort des Treffens vor: Versailles. (DP)
Bild v.l.n.r.: Alina Hirschhausen (Moderatorin), Olivier Guez, Michal Hvorecky, Anne Gödde, Felix Neumann, Tabea Schröder (Moderatorin. (Foto: DP)